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Junge Menschen im Leistungssport: Was sie stärkt und schützt

18 Jun 2024
ZüPP
Fachartikel
18 Jun 2024
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Scott Webb auf Unsplash.com

Spitzensport ist ein extremes Leben. Enorme Trainingsumfänge, wenig Zeit für Freundschaften und Freizeit, heftige Emotionen aller Art prägen dieses Leben. Wie lässt sich ein so extremes Leben gerade für junge Menschen gesund gestalten? Und wo nimmt das seinen Anfang? Schauen wir bei Jim nach:

Jim ist 17 Jahre alt und begeisterter Eishockeyspieler. Seine Lehre als Elektroplaner schliesst er bald ab. Erstmals stand er mit 3 Jahren auf dem Eis, sein Vater nahm ihn jeweils mit. Schon als Erstklässler nutzte er jede Gelegenheit, um Schlittschuh zu laufen. Zu Weihnachten wünschte er sich Shirts von Lieblingsspielern, später Tickets für Meisterschaftsspiele. Alleine oder mit anderen zusammen, immer fand man ihn winters auf dem Eisfeld im Dorf oder im Sommer auf Plätzen aller Arten, die sich für Abschusstrainings eigneten. In der Primarschule trainierte er bereits fünfmal wöchentlich, stand morgens um 6.30h auf dem Eis. Früh aufstehen fürs Eishockey war für ihn kein Problem.

Leidenschaft für die Sportart: Wichtigstes Gut von Athlet:innen

Jims Beispiel zeigt, dass - wie bei den meisten Lieblingshobbies von Menschen – auch bei Leistungssportlern am Anfang Neugier und Interesse stehen. Ein Kind begegnet einer Sportart, die es interessant findet, es wendet sich ihr immer wieder zu. Passen die Anforderungen der Sportart gut zu den Fähigkeiten des Kindes, löst dies Freude und Lust auf mehr aus. Leidenschaft entsteht. Leidenschaftliche bzw. intrinsische Motivation für den Sport kann als das wichtigste Gut von Athlet:innen betrachtet werden.

Selbstwertsteigerung dank Leistungssport im Jugendalter

Das Sportumfeld wurde rasch auf Jim aufmerksam: «Der Junge hat Talent!», wurde am Spielfeldrand geraunt und die Trainer schlugen höhere Kader für Jim vor. Für Jim begann nun auch ein sozial befriedigender Prozess: Er realisierte, dass er als Talent galt. Jims Mutter erinnert sich: «Jim war kein starker Schüler, er war still und zurückhaltend mit Kollegen. Als er aber in den Stadtclub und in höhere Kader wechselte, da wurde er richtig selbstbewusst, wurde mutiger, auch im Austausch mit Mädchen und Erwachsenen. Da erzählte er uns erstmals von seinem Traum, einst in der NHL spielen zu können» 

Am Anfang überwiegt beim Leistungssport die positive psychische Wirkung auf Kinder und Jugendliche. Ein wichtiger Anteil daran hat das Selbstkonzept, in welchem wir das Wissen über unsere Stärken und Schwächen sammeln. Das Selbstkonzept ist ein wichtiger kognitiver Faktor des allgemeinen Selbstwerts und weist folgende Subdimensionen auf: das akademische, das soziale, das emotionale und das physische Selbstkonzept. Studien zeigen, dass im Kindes- und Jugendalter das physische Selbstkonzept am stärksten mit dem generellen Selbstkonzept korreliert und damit direkt auf den Selbstwert wirkt. Kurz: Da sich junge Leistungssportler:innen ihrer physischen Stärken früh bewusst werden, verfügen sie über ein gutes Selbstwertgefühl. 

Die gefestigte intrinsische Motivation bildet zusammen mit dem guten (physischen) Selbstwert einen sicheren Boden, der fortan einiges tragen muss. Denn die Leistungssportlaufbahn fordert das Selbstvertrauen heraus und löst auch Krisen aus: Zum Beispiel beim Wechsel in höhere Leistungskategorien, wenn man vom Leistungsträger zum Neuling wechselt. Wenn wachstumsbedingt der Körperschwerpunkt ändert und Abläufe nicht mehr sitzen und neu adjustiert werden müssen; oder wenn unerwartete (Nicht-)Selektionen verdaut, Krankheiten oder Verletzungen akzeptiert oder die druckvolle Favoritenrolle ausgehalten werden muss. Im Nu kann da die Unbeschwertheit weichen und plötzlich sind Befürchtungen, Ängste und Selbstzweifel da. Auch schulische und berufliche Übergänge können kritische Phasen auslösen. Hier beginnen mentale Stärke und Techniken eine Rolle zu spielen. Das Feld an mentalen Techniken ist gross und kann hier aus Platzgründen nicht weiter vertieft werden. Grob gesagt müssen Athlet:innen früher oder später lernen, dass das Geistige das Körperliche beeinflusst und sie auf diese Wirkung Einfluss nehmen können. In dieser Zeit wird ihnen auch ihre Identität als Leistungssportler:in bewusst und welchen Wert sie sich damit erschaffen haben. Fortan ist auch das Umfeld gefordert. Unnötiger Stress, wie zu wenig Regeneration, unterdrückender oder überharter Führungsstil durch Trainer:innen, eine inadäquate Nähe zu den Eltern oder wenig Verständnis von Schule oder Lehrbetrieb, kann die Entwicklung einer Athletin/eines Athleten gefährden.

Auch Jim ging durch schwierige Phasen. Als die Lehrstellensuche beschwerlich wurde und ihm als Captain die soziale Verantwortung im Team über den Kopf wuchs, da fühlte er sich auch auf dem Eis blockiert und verlor die Freude an allem. Seine Eltern gerieten in Streit darüber, was Gründe dafür sein könnten. Die Mutter meinte, der Sport sei zu hart für Jim geworden. Der Vater aber befand, Jim müsse einfach disziplinierter werden und weniger am Handy sein. Der Trainer reagierte kaum auf Anrufe und Mails der Eltern.  

Nicht immer ist es leicht, das Umfeld für präventive Vorkehrungen zu motivieren. Manchmal fehlt die nötige Einsicht. Zwei Forschungsbefunde helfen da in der Regel: 1. Selbstvertrauen und Erfolg im Sport hängen zusammenhängen. Eltern und Trainer:innen können Einfluss auf das Selbstvertrauen des Kindes nehmen. 2. Wenn psychische Grundbedürfnisse nach Autonomie-, Kompetenz- und Zugehörigkeitserleben ausreichend versorgt sind, profitiert das Selbstvertrauen und im Besonderen die intrinsische Motivation und damit die Leidenschaft von Menschen. Hat man dann als sportpsychologische Fachkraft die Chance, mit dem Umfeld zu arbeiten, lässt es sich sehr praxisnah präventiv und leistungsoptimierend arbeiten. 
  

Psychische Grundbedürfnisse und wie sie im Alltag besser versorgt werden können:

Autonomieerleben: Möglichkeiten zum Rückzug, zur Mitbestimmung und zur Selbst- und Mitverantwortung im Trainings- und Familienalltag schaffen. Knacknuss für die Eltern ist häufig, dass sie trotz nötiger Präsenz und Unterstützung ausreichend Raum für Distanz und Ablösung vom Kind zulassen. Zudem führt der ressourcenintensive elterliche Support häufig auch zu übersteigerter emotionaler Anteilnahme, was problematisch sein kann.

Kompetenzerleben: Es lohnt sich, vor allem mit den Trainer:innen ihre Feedback- und Gesprächskultur zu reflektieren und Optionen der Verbesserung zu erarbeiten. Eltern sind gefordert, dass auch nicht-sportliche Themen am Familientisch Gehör finden. Und dass – mit Blick auf das anfangs erwähnte Selbstkonzept – auch andere Anteile des Selbst zur Sprache und zum Ausdruck kommen.

Zugehörigkeitserleben: Aussersportliche Teamaktivitäten und Stärkung fördern die Zugehörigkeit einzelner zur Gruppe. Auch Eltern müssen hie und da prüfen, ob ihre Zuwendung zum Kind und dessen Wertschätzung leistungsunabhängig geschieht. 

Auch für die Sicherung guter Ethik im Spitzensport, wäre es sinnvoll, sich stärker auf den Umgang mit psychischen Grundbedürfnissen zu konzentrieren. Denn alle Akteur:innen im Leistungssport kennen den immensen Druck und sind darauf angewiesen mit guter mentaler Haltung und mit verantwortungsvollem Orientieren an psychischen Bedürfnissen von Athlet:innen, aber auch von sich selbst, im Spitzensportalltag zu funktionieren.   

Jim fand aus seiner Krise wieder heraus. Dank gemeinsamen Gesprächen mit dem Nachwuchssportchef, dem Lehrer und den Eltern konnten schliesslich Massnahmen getroffen werden, die Jim halfen. Er gab vorübergehend seine Captainrolle ab und durfte einige Trainings aussetzen, um sich voll um die Bewerbungen zu kümmern. Zudem halfen ihm ein paar Stunden Mentaltraining bei einer Fachperson. Es wurde klar, dass auch der Trainer durch eine persönliche Krise ging und das Team nicht mehr richtig führen konnte. Der Nachwuchschef installierte daraufhin interne Supervisionen für sich und seine Trainer. Einst in der NHL zu spielen ist immer noch Jims grosser Traum – und ein bisschen auch schon sein Ziel.

Dr. phil. Katharina Albertin

Über die Autorin

Dr. phil. Katharina Albertin ist Fachpsychologin für Sportpsychologie FSP und eidg. anerk. Psychotherapeutin. Sie arbeitet seit 11 Jahren im eigenen Unternehmen (SPEAK Albertin AG) als Sportpsychologin und Psychotherapeutin mit Leistungssportler:innen jeden Alters aus diversen Sportarten. Sie präsidierte von 2017 bis 2023 die Swiss Association of Sport Psychology (SASP). Seit 2022 ist sie Mitglied des Stiftungsrates von Swiss Sport Integrity. Sie betrieb früher selbst Leistungssport (Volleyball).

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