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Gefährlichkeitsbeurteilungen von Straftäter:innen: Ein Überblick aus der forensischen Praxis

25 Jun 2025
ZüPP
Fachartikel
25 Jun 2025
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Jornada Produtora auf Unsplash.com

Am 24. Juni 2025 gab uns Catherine Graber im Rahmen der ZüPP-Fortbildung spannende Einblicke in das Thema „Gefährlichkeitsbeurteilungen von Straftäter:innen“. Die wichtigsten Punkte hat sie im folgenden Fachartikel zusammengetragen.

Die Beurteilung des Delinquenzrisikos von Straftäter:innen ist eine zentrale Aufgabe der forensischen Psychologie und Psychiatrie. Die Risikobeurteilung stellt einen Schlüsselprozess in der Verhinderung von Straftaten dar. Sie bildet unter anderem die Grundlage für gerichtliche Entscheidungen zu therapeutischen Massnahmen und ist auch im weiteren Verlauf - beispielsweise im Rahmen von Vollzugslockerungen - von zentraler Bedeutung. 

Klinische vs. forensische Diagnostik

Im forensischen Kontext ist es wichtig, zwischen der klinischen Diagnostik psychischer Störungen (z. B. nach ICD oder DSM) und der Erfassung risikorelevanter Persönlichkeitseigenschaften zu unterscheiden. Es gibt zahlreiche Beurteilungssituationen, in denen das Risikoprofil von Straftäter:innen durch ein allgemeinpsychiatrisches Klassifikationssystem nicht adäquat abgebildet werden kann. Zwar lassen sich in manchen Fällen bestimmte risikorelevante Problembereiche einer Persönlichkeit auch innerhalb eines allgemeinpsychiatrischen Systems kodieren, jedoch bleibt der Zusammenhang zum spezifischen Deliktverhalten häufig unscharf und wenig differenziert. Allgemeinpsychiatrische Klassifikationssysteme sind primär darauf ausgerichtet, psychiatrische Erkrankungen zu diagnostizieren. Sie wurden jedoch nicht entwickelt, um Persönlichkeitsmerkmale zu identifizieren, die für die Begehung von Straftaten relevant sind. Genau hier setzt die forensische Diagnostik an: Ihr Ziel ist es, die im Einzelfall vorhandenen risikorelevanten Persönlichkeitseigenschaften systematisch zu erfassen und zu beschreiben (Urbaniok, 2021).

Ursachen von Straftaten?

Verschiedene empirische Untersuchungen verweisen auf unterschiedliche Zahlen hinsichtlich des Vorliegens psychischer Störungen nach ICD oder DSM bei Straftäter:innen. Allen gemein ist, dass es eine Vielzahl an Straftaten gibt, die nicht oder nicht ursächlich durch eine psychiatrische Symptomatik erklärbar sind (z. B. Junginger et al., 2006; Peterson et al., 2010, 2014).
Bonta und Andrews (2016) identifizierten die «Central Eight» als acht spezifische kriminogene Risikofaktoren, die wesentlich zu delinquenten Verhaltensweisen beitragen. Darunter finden sich auch risikorelevante Persönlichkeitsmerkmale wie beispielsweise eine antisoziale Persönlichkeit oder antisoziale Einstellungen.
Bolaños et al. (2020) bestätigten in ihrer Studie, dass kriminogene Risikofaktoren bei psychiatrischen Patient:innen stärker mit Straftaten assoziiert sind als die psychiatrische Symptomatik. 

Instrumente zur Risikobeurteilung

Für die Risikobeurteilung stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, die sich hinsichtlich ihrer Methodik unterscheiden: Dazu zählen der intuitive Ansatz (freihändige Einschätzung ohne strukturierte Instrumente), der psychometrische Ansatz (Einsatz standardisierter Tests), der biostatistische Ansatz (aktuarische Verfahren) sowie der strukturierte klinische Ansatz (Structured Professional Judgement, SPJ) (Nedopil et al., 2021).

Der rein intuitive Ansatz findet heute kaum noch Anwendung. Als Goldstandard gelten mittlerweile die SPJ-Methoden. Sie verbinden empirisch fundierte Methoden mit klinischer Expertise und eignen sich besonders, um sowohl Risiko- als auch Schutzfaktoren systematisch zu erfassen und in die Risikobeurteilung einzubeziehen. Dadurch liefern sie wertvolle Hinweise für das Risikomanagement einer Person und bieten gezielte Ansatzpunkte für deliktpräventive therapeutische Behandlungen.

Fazit

Die Risikobeurteilung in der Forensik sollte sämtliche risikorelevanten Merkmale erfassen, um das von einer Person ausgehende Gefährdungspotenzial möglichst umfassend einschätzen zu können. Neben psychiatrischen Diagnosen ist insbesondere die Identifikation risikorelevanter Persönlichkeitseigenschaften von zentraler Bedeutung. Für die praktische Arbeit bedeutet dies, dass forensische Interventionen nicht ausschliesslich auf die Behandlung psychischer Erkrankungen abzielen sollten, sondern gezielt auch die Bearbeitung risikorelevanter Persönlichkeitseigenschaften umfassen müssen.

Über die Autorin

Catherine Graber ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie FSP mit langjähriger Expertise in der Risikoeinschätzung von Gewalt- und Sexualstraftäter:innen. Derzeit ist sie im Bedrohungsmanagement der Kantonspolizei St. Gallen tätig, wo sie forensisch-psychologische Einschätzungen von (potenziell) gefährlichen Personen übernimmt. Zudem ist sie Dozentin und Studienleiterin am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Literatur

Bolaños, A. D., Mitchell, S. M., Morgan, R. D., & Grabowski, K. E. (2020). A comparison of criminogenic risk factors and psychiatric symptomatology between psychiatric inpatients with and without criminal justice involvement. Law and human behavior, 44(4), 336.

Bonta, J., & Andrews, D.A. (2016). The Psychology of Criminal Conduct (6th ed.). Routledge. 

Junginger, J., Claypoole, K., Laygo, R., & Crisanti, A. (2006). Effects of serious mental illness and substance abuse on criminal offenses. Psychiatric Services, 57(6), 879-882.

Peterson, J. K., Skeem, J. L., Hart, E., Vidal, S., & Keith, F. (2010). Comparing the offense patterns of offenders with and without mental disorder: Exploring the criminalization hypothesis. Psychiatric Services, 61(12), 1217-1222.

Peterson, J. K., Skeem, J. L., Kennealy, P., Bray, B., & Zvonkovic, A. (2014). How Often and How Consistently Is Criminal Behavior Preceded by Symptoms for Offenders with Mental Illness? Law and Human Behavior, 38, 439-449.

Nedopil, N., Endrass, J., Rossegger, A., & Wolf, T. (2021). Prognose: Risikoeinschätzung in forensischer Psychiatrie und Psychologie: Ein Handbuch für die Praxis. Pabst Science Publishers.

Urbaniok, F. (2021). FOTRES-Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-System: Diagnostik, Risikobeurteilung und Risikomanagement bei Straftätern. MWV.

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